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Gemeinsame Verantwortung

Täglich sind für unseren Medizinischen Dienst rund 400 Fachkräfte im Einsatz – hauptsächlich in der Einzelfallbegutachtung Pflege, aber auch in der Begutachtung von Hilfsmitteln und außerklinischer Intensivpflege. Einen Teil ihrer Arbeit führen sie im direkten Kontakt mit den Versicherten in deren persönlichen Wohnumfeld durch. Viele Hausbesuche verlaufen dabei reibungslos und unauffällig.

Doch immer wieder kommt es zu Situationen, die unsere Gutachterinnen und Gutachter mit einem unguten Gefühl in Bezug auf Kindeswohl zurücklassen. Vielleicht haben sie im Wohnumfeld etwas Ungewöhnliches beobachtet, vielleicht ergeben die Befunde oder die persönlichen Eindrücke bei der Begutachtung ein verdächtiges Bild. Unsere Kolleginnen und Kollegen brauchen dann Sicherheit zur Einordnung von Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung und klare Handlungswege.

Ein Thema, das uns alle angeht

Als medizinischer und pflegefachlicher Begutachtungsdienst fühlen wir uns dem Schutz von Kindern verpflichtet. Leider scheint Gewalt gegenüber Kindern zuzunehmen – und zwar in allen Bevölkerungsschichten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stellten die Jugendämter im Jahr 2023 bei fast 63.700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt fest. Im Vorjahr waren es noch 2,5 Prozent weniger.

Hinzu kommt ein erhebliches Dunkelfeld an Fällen. Schätzungen gehen davon aus, dass fast zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Verlauf ihres Aufwachsens von Kindeswohlgefährdung betroffen sind. Die Situation im Dunkelfeld ist umso dramatischer, da solche Fälle meist unentdeckt bleiben. Für die Betroffenen besteht in der Folge kaum Hoffnung auf Intervention durch Behörden und Schutzeinrichtungen. Begutachtungssituationen sind eine Chance, Probleme aufzudecken und Unterstützung in die Wege zu leiten.

Auf den Anstieg der Fälle hat der Gesetzgeber reagiert. Die Verankerung von Meldepflichten sowie Netzwerkstrukturen zur Präventionsverbesserung im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) sowie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) schafft mehr Klarheit und Verbindlichkeit. Zugleich verpflichtet sie Berufsgeheimnisträger wie zum Beispiel Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, bei gewichtigen Anhaltspunkten auf Kindeswohlgefährdung mit den Jugendämtern zusammenzuarbeiten. Es besteht also auch für die Mitarbeitenden der Medizinischen Dienste eine rechtliche Verpflichtung, hinzuschauen, gewichtige Anhaltspunkte einzuordnen und gegenüber dem Jugendamt zu formulieren.

„Als Pädiaterin und auch als Mutter liegt mir Kinderschutz besonders am Herzen. Indem unser medizinisches Personal geschult, aufmerksam und engagiert in Begutachtungssituationen geht, kann es einen entscheidenden Beitrag zum Schutz und zur Förderung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen leisten.“

Dr. Anne Trapp

Fachreferentin für Pädiatrie

Interdisziplinäre Arbeit in Projektgruppe

Unsere Projektgruppe zum Prozess bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung hat daraufhin Handlungsanweisungen für Verdachtsfälle erarbeitet. Wie sehr uns das Thema am Herzen liegt, zeigt die abteilungsübergreifende Zusammensetzung des Teams. Nahezu alle Bereiche unseres Dienstes waren an der Arbeit beteiligt – der Fachservice, die Geschäftsbereichsleitung Pflege, Personalbetreuung und IT bis hin zu den Stabsstellen.

Gemeinsames Ziel war es, den Begutachtenden konkrete Hilfestellungen an die Hand zu geben. Dazu gehören ein klarer Handlungsprozess im Falle von gewichtigen Anhaltspunkten für eine mögliche Gefährdung, eine Beratungsmöglichkeit sowie Schulungs- und Aufklärungsangebote. Neben der Umsetzung der gesetzlichen Pflichten sollen diese klaren Strukturen die Begutachtenden zeitlich wie auch emotional entlasten.

Zu Beginn der Projektphase haben wir gezielte Netzwerkarbeit betrieben, um mit Expertinnen und Experten ins Gespräch zu kommen. Denn uns war wichtig, aktuelle Empfehlungen von Fachstellen wie der Kinderschutzhotline in die Arbeit einfließen zu lassen.

Gemeinsam für den Kinderschutz

Wichtig ist uns auch, unsere begutachtenden Kolleginnen und Kollegen seelisch zu entlasten. Wir wollen sie in belastenden Situationen nicht allein lassen! Auch für sie tragen wir als Medizinischer Dienst Verantwortung. Daher spielt Supervision in unserem Kinderschutzkonzept eine tragende Rolle. Zusammen mit den geplanten Schulungen ergibt sich so ein ganzheitlicher Ansatz.

Mit Einführung des neuen Prozesses nehmen wir eine wichtige Vorreiterrolle in Bezug auf Kinderschutz ein. Unsere Projektergebnisse tragen wir auch in die Gemeinschaft, damit andere Medizinische Dienste davon profitieren können. So stellen wir sicher, dass die Kolleginnen und Kollegen der Pflegeeinzelfall- und AKI-Begutachtung bundesweit für dieses wichtige Thema sensibilisiert sind. Gemeinsam wollen wir dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland behütet und sicher aufwachsen können. Dieses Ziel ist Teil unserer Verantwortung als Medizinischer Dienst!

Interview mit Sandra Bojang

Sandra Bojang ist langjährige Pflegegutacherin in unserem Medizinischen Dienst. Hier berichtet sie über den Umgang mit potenziellen Fällen von Kindeswohlgefährdungen und schildert ihre Perspektive aus der Praxis.

Volltext-Alternative zum Video: Interview mit Sandra Bojang